|
Ballard, J. G.: Vom Leben und Tod Gottes (Buch)
J. G. Ballard
Vom Leben und Tod Gottes
(The Complete Short Stories (Part 2), 2001)
Deutsche Übersetzung von Charlotte Franke, Joachim Körber, Franz Rottensteiner, Alfred Scholz, Michael Walter und Carl Weisser
Bearbeitung der Übersetzung: Angela Herrmann und Hannes Riffel
Heyne Verlag, 2007, Taschenbuch, 1132 Seiten, 11,95 EUR, ISBN 978-3-453-52277-0
Von Gunther Barnewald
Der voluminöse zweite Band mit Kurzgeschichten James Graham Ballards enthält insgesamt 58 Storys aus den Jahren 1964 bis 1992.
Mit etwas weniger als hundert Seiten ist „Die ideale Stadt“ die längste Geschichte und sicherlich auch eine der besten. Sie geht von folgender Situation aus: Der Welt sind alle Erdölvorräte ausgegangen und die technologische Zivilisation ist zusammen gebrochen. Alle Großstädte sind verlassen und die Menschen leben friedlich in ländlichen Enklaven, sind Vegetarier geworden und leben fast ohne Hektik, Aggression und Ehrgeiz. Nur der junge Halloway kann sich mit diesem friedlichen Leben nicht abfinden und träumt vom Fliegen. Er baut ein kleines Flugzeug, und segelt damit in eine der verlassenen Großstädte. Dort begegnet er noch anderen Bewohnern, die in ihrem Wahnsinn an den alten Reliquien festhalten. Zusammen mit den anderen gelingt es Halloway, die Stadt wieder zu beleben und junge Leute anzulocken, die das neue, friedliche ökologische Leben der Wind- und Solarkraftanhänger langweilt. Wie im Zeitraffertempo gelingt es ihnen, ein Stadtviertel wiederzubeleben, und wieder ziehen Hass, Gewalt und Verbrechen ein in die Stadt, während andererseits die Ausbeutung der jungen Arbeiter blüht, Vergnügungsviertel und Spielhallen sprießen. Während ein verurteilter Mörder sich als Gangsterboss etabliert und ein ehemalige Unternehmer seinen Tower fertig bauen lässt, fungiert Halloway als eine Art Bürgermeister. Doch als das erste Kind bei einem Verkehrsunfall getötet wird, laufen die Geschehnisse endgültig aus dem Ruder und eskalieren ...
Clever arrangiert der Autor hier die Gegensätze; erst erscheinen die „Ökos“ verachtenswert, dann entdeckt der Leser die perversen Schattenseiten von Halloways perfidem Traum des technologischen Großstadtlebens mit seinen Verbrechen, seiner Korruption, Hektik und Gewalt.
In „Durchgangszeit“, der frühesten Kurzgeschichte in diesem Sammelband, laufen die Lebensereignisse der Menschen in umgekehrter Reihenfolge ab. Das Leben beginnt mit dem Tod und endet mit der Geburt. Berichtet wird von einem Mann namens James Falkman, dessen Leiche man 1963 vom Friedhof holt. Kurz nach der Aufbahrung erwacht er wieder zum Leben, noch sehr geschwächt. Danach wird er jedoch immer stärker und jünger, fängt einige Jahre später an ganz oben in der Hierarchie einer Firma zu arbeiten. Danach beginnt jedoch, mit zunehmender Verjüngung, sein beruflicher Abstieg. Eines Tages, 15 Jahre nach seiner eigenen Aufbahrung, geht er zum Friedhof, wo man gerade seine Frau ausgräbt. Auch sie wird aufgebahrt und erwacht dann bald wieder zum Leben. Gemeinsam verbringen sie die nächsten Jahre, während die Gräber auf dem Friedhof immer weniger werden. Schließlich verlieren sich beide, immer jünger werdend, aus den Augen. Falkman zieht wieder zu seinen Eltern zurück, gibt seinen Beruf auf und besucht wieder die Schule. Jahr für Jahr wird er eine Klasse zurückversetzt, bis er auch die Schule nicht mehr schafft. Schlussendlich geht seine Mutter mit ihm ins Krankenhaus und kommt mit dickem Bauch nach Hause zurück, der sich jedoch im Verlauf der nächsten beun Monate immer mehr zurückbildet.
Diese Geschichte wirkt so verblüffend normal und banal, dass man erst durch den umgekehrten Zeitablauf merkt, wie man als Leser ein völlig andere Perspektive zu unserem alltäglichen Leben entwickelt.
Hierin liegt auch Ballards herausragendste Leistung; er bringt den Leser dazu, die alltäglich Normalität zu hinterfragen und mit anderen Augen zu sehen, wie Philip K. Dick dies in seinen Kurzgeschichten ebenfalls so gut konnte.
Doch wie bei Dick leiden Ballards Geschichten manchmal unter ihrer beschränkten Themenauswahl, was besonders auffällt, wenn man die Storys hintereinander liest. So tauchen Sujets, von denen Ballard selbst besessen scheint, in obsessiver Form immer wieder auf. Egal ob der Flugdrang der Protagonisten und deren nahezu krankhafte Begeisterung fürs Fliegen, die Beschäftigung mit Autounfällen oder der Gedanke, dass die Raumfahrt eine Art „Sünde“ sei und zum Untergang der Menschen führt, während Astronauten verrückte Psychopathen sind, immer käut der Autor geradezu zwanghaft gewisse Themen wieder, die für sich genommen interessant, in ihrer Auswalzung jedoch abstoßend wirken. Auch wenn sich die Themen größtenteils aus des Autors persönlicher Vita ergeben (z. B. starb seine Frau bei einem Autounfall und der Autor war als Kind von Flugzeugen geradezu besessen etc.), so empfiehlt es sich besonders in Ballards Schaffensphase von 1981 bis 1985 (Ausnahme die hervorragende Kurzgeschichte „Bericht über eine unidentifizierte Raumstation“), die Geschichten nicht hintereinander zu lesen, da sie sich thematisch zu ähnlich sind und so beim Rezipienten Langeweile aufzukommen droht.
Gerade diese Phase schließt jedoch mit einer von Ballards besten Kurzgeschichten überhaupt ab. „Der Mann, der auf dem Mond spazieren ging“ erinnert in seiner melancholischen Ausprägung fast an eine Geschichte von Ray Bradbury, ist jedoch ein unverwechselbarer Ballard, allerdings auf stilistisch höchstem Niveau.
Auch der zweite Band von Kurzgeschichten Ballards ist lesenswert und enthält zweifellos einige Meisterwerke des Genres, wenn auch der manchmal arg schwarze Humor des Autors sicherlich manchem Leser aufstoßen dürfte. Gerade in seinen letzten Geschichten (v. a. „Die geheime Geschichte des Dritten Weltkriegs“ und „Kriegsfieber“) schwingt eine Bitterkeit mit, wie man sie z. B. aus dem Spätwerk des begnadeten Mark Twain kennt.
Wer sich davon aber nicht abschrecken lässt und Ballards Storys noch nicht kennt, der wird auch in „Vom Leben und Tod Gottes“ die ganze Palette der Gefühle durchleben können, was um so erstaunlicher ist, denn Ballards entpersonalisiert wirkende Haupthandelnde mit den austauschbaren Charakteren oder (oft gleichen) Namen laden nicht gerade zur Identifikation ein. Aber das ist vielleicht auch gut so, wären doch Kurzgeschichten wie „Kriegsfieber“ und das dystopische „Familienglück“ sonst völlig unerträglich.
Aber neben Meilensteinen wie „Der leuchtende Mann“ (aus dem Ballard 1966 den Roman „Kristallwelt“ machte, wobei die Story fast überzeugender und vor allem prägnanter und kohärenter wirkt, während der Roman der Geschichte nichts wirklich Neues hinzu fügt) und den drei enthaltenen Storys aus dem später zusammen gestellten Episodenroman „Vermillion Sands“, warten auch einige verrätselt oder gar psychotisch wirkende Geschichten auf den Leser, welche die Experimentierfreude des Autors zeigen, wenn auch einige als misslungen bewertet werden können (z. B. „Tierkreis 2000“ oder „Die Morde am Strand“). Aber auch hier beweisen „Wild schwärmende Phantasien“ und „Das Lächeln“, dass kleine Meisterwerke hinter dem Wahnsinn lauern können.
So ist auch der vorliegende Band insgesamt ein herausragendes Werk, wenn dies auch nicht für jede einzelne Geschichte gelten kann (was aber auch vermessen wäre zu erwarten).
hinzugefügt: October 18th 2007 Tester: Gunther Barnewald Punkte: zugehöriger Link: Heyne Verlag Hits: 3168 Sprache:
[ Zurück zur Übersicht der Testberichte | Kommentar schreiben ] |
|