800 Bullets
Spanien 2002, Regie: Álex de la Iglesia, mit Ángel de Andrés López, Eduardo Antuña, Ramón Barea u.a.
Von Thomas Harbach
Mit „800 Bullets“ liegt inzwischen die schon 2002 entstandene Hommage an den Italo-Western auch auf deutsch vor. Der wildeste Regisseur Spaniens, Álex de la Iglesia, hat seine Karriere mit einer Parodie begonnen. In „Accion Mutante“ nahm er sich sehr untypisch dem Science Fiction Genre an. Mit „El dia de la Bestia“ folgte die sicherlich beste „Exozist“-Parodie. Schon in seinem Roadmovie „Perdita Durango“ kombinierte er Elemente des europäischen Western mit der Exzentrik eines David Lynch Films. Wer jetzt bei „800 Bullets“ eine überdrehte Westernparodie erwartet, wird angesichts der Tragikkomödie ein wenig überrascht. Der Auftakt des Films ist allerdings klassisch: Die Titelsequenz ist eine hervorragende Würdigung der animierten Vorspänne von Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar mehr“ und „Zwei glorreiche Halunken“. Dazu die passende Musik und schon stimmt das Ambiente. Wie sehr Iglesia den Western verehrt, zeigt sich an der Sorgfalt, mit welcher diese wenigen Minuten - auch der Abspann nach einem tragisch anrührenden, aber so sentimental spanischen Ende muss hier genannt werden, in ihm werden die Legenden des Neowestern einfach fortgeschrieben - sich vor den verblüfften Zuschauern entfalten. Danach wechselt Iglesia schnell die Front und erzählt im Grunde die Geschichte vom endgültigen Tod des Western in einer kapitalistischen, modernen Zeit.
Carlos ist Halbwaise. Seine Mutter ist eine eiskalte Geschäftsfrau. Seine Großmutter lebt bei ihnen. Nach einem Umzug rutscht ihr raus, das Carlos Vater bei einer Westernstuntshow – der Zuschauer verfolgt dieses Drama im Vorspann – bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Sein Großvater soll im Herzen des spanischen Italo-Western – dort sind die meisten Filme wie Sergio Leones „Dollar“- Trilogie mit Clint Eastwood entstanden – Amaria noch immer arbeiten. Carlos ist der Meinung, sein Großvater dreht immer noch Filme. Heimlich macht sich der kleine Carlos auf nach Almeria. Sein versoffener Großvater leitet dort eine heruntergekommene Wildwest-Show. Im Selbstmitleid ertrinkend, spricht er oft über die guten alten Zeiten als er noch als Stunt-Double für Clint Eastwood eingesetzt wurde. Zu allem Überfluss macht ihn auch Carlos Mutter für den Tod ihres Mannes verantwortlich... denn Julián war dabei, als der Unfall passierte. Eines Tages kommt diese auch wütend angetrabt und will ihren Sohn mitnehmen. Nebenbei erwähnt die Maklerin, dass sie dieses Grundstück für andere Zwecke vorgesehen hat - die Westernstadt soll dem Erdboden gleich gemacht werden. Sie können ihm alles nehmen, nur nicht seine Wildwestshow. Zu allem entschlossen macht sich Julián auf in die große Stadt. Dort besorgt er sich nun 800 (echte) Kugeln.
Iglesias Film kommt zu einer Zeit auf DVD heraus, in der sich auch andere Regisseure wie Takeshi Miike – „Sukiyaki Western Django“ – um eine Renaissance des Genres bemühen. In den USA laufen mit einer weiteren Ballade um Jesse James tragisches Ende und vor allem dem Remake von „3:10 to Yuma“ zwei großzügig budgetierte Filme mit Starbesetzung an. Und doch zeigt Iglesia, warum der Western im Sterben begriffen ist. Sein Film spielt überwiegend in Almeria, einem Teil Andalusiens, wo unzählige italienische Western gedreht worden sind. Diese besonderen Look des italienischen Western hat Iglesia nicht nur mit seinem gemächlichen Tempo, das sich zum Crescendo des Showdowns kontinuierlich steigert, betont, sondern vor allem auch seine Hauptdarsteller. In der Rolle des sperrigen Großvaters und „Anführers“ der Schauspieler in der Westernstadt brilliert Sancho Gracia. Stolz aber abgetakelt, ein Alkoholiker, der mit dem Tod seines Sohnes auf dem Set nicht fertig geworden ist und seine eigene Person aus diesen tragischen Ereignissen herausgetrennt hat. Ein egoistischer Dickkopf, der weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Ein Mann, der gedanklich in der Vergangenheit lebt und in der Gegenwart keinen Moment auslässt, um mit zu feiern. Eine Persönlichkeit, welcher der Schein wichtiger ist als die Realität. Der deutsche Verleih hat Sancho Gracia eine raue, aber sympathische Synchronstimme gegeben. Er rühmt sich immer, Clint Eastwoods Poncho in den Stuntszenen getragen, in „Patton“ den Panzer des Generals getragen und bei „100 Gewehre“ an der Seite von Raquel Welch gestanden zu haben. Mit Gracia hat sich Iglesia ganz bewusst einen Schauspieler ausgesucht, der wirklich bei „100 Gewehre“ mitgespielt hat. Dazu kommen unter anderem auch Rollen im surrealistischen „Django, Kill… If you live, Shoot“ oder Iglesias „La Communidad“. Gracia ist der Dreh- und Angelpunkt, mit dessen sehr guter schauspielerischer Leistung der Film brillieren oder fallen kann. Auf seinen Schultern trägt er den Film und führt eine sehr homogene Gruppe – in allerdings exzentrischen Rollen – von Darstellern an. Auch wenn die Laienschauspielgruppe in dem abgehalfterten Westendorf auf den ersten Blick zum Fürchten aussieht, gelingt es dem sehr nuancierten Drehbuch, aus ihnen tragischen Antihelden zu machen. Wenn einer der Schauspieler endlich unter der Fuchtel seiner Freundin heraustritt und ihr per Telegramm die Meinung sagen will, ist diese Szene nicht kitschig, sondern tragisch lustig. Wenn einer der Stuntmen von echten Polizeikugeln getroffen ein letztes Mal vom Dach fällt und schwer verletzt Gracia fragt, ob auch dieser Fall in Ordnung gewesen ist, dann leidet der Zuschauer mit den Figuren mit. Wenn am Ende ein Mann den Sheriffstern ins Grab wirft und noch einmal betont, einen Freunde verloren zu haben, dann kann man sich nicht eine Träne verkneifen. Wenn die Wahrheit über die Legenden bekannt wird, ist es besser, weiter die Legende zu erzählen. Damit spannt Iglesia den Bogen zu „The Man who shot Liberty Valance“. Außerhalb der verschworenen Gemeinschaft sind nicht alle Figuren so gut gelungen. Während Carlos sich seinem Idol, dem legendären Großvater, auf seine schüchterne Art zu nähern sucht, um über ihn zumindest etwas von seinem Vater zu erfahren, wirkt die Mutter als resolute Geschäftsfrau zu klischeehaft, zu eindimensional. Ihre späte Erkenntnis, dass es neben dem Geldverdienen auch ein Leben geben muss und kann, kommt für den Zuschauer zu überraschend und wirkt deswegen eher konstruiert als entwickelt.
Trotzdem ist „800 Bullets“ ein wenig anders als die bisherigen Alex de la Iglesia-Filme. Es fehlt dem Film der oft markante Zynismus seiner anderen Filme. Dazu kommt, dass der manchmal sehr grafische Sex deutlich reduziert worden ist und vor allem die Gewalt im Vergleich zu Brutalorgien wie „Perdita Durango“ – mit dem er vom Inszenierungsansatz und der beweglichen Kamera am meisten technisch gemein hat – auf ein im Grunde Familienfilmniveau reduziert worden ist. Auch wenn Iglesia am Ende des Films notgedrungen auf den Mythos des Western, des Einzelgängers ohne Familie und ohne Ziel im Leben zurückkommt, ist diese klassische Konstellation nur der Aufhänger seines exzentrischen, im Kern aber liebenswerten Films. Es geht um klassische Werte wie Ehrlichkeit. Sowohl Carlos Mutter als auch sein Großvater leben mit und von Lügen. Seine Mutter macht ihre opportunistischen Immobiliengeschäfte mit gespaltener Zunge. Am Ende des Films will sie mittels Fernsehen den eingeschlossenen Westerndarstellern suggerieren, dass sie eine neue Westernstadt bauen lässt, um ihnen eine neue Heimat zu geben. Alles Lüge. Carlos Großvater lebt mit der Lüge, dass er am Tod seines Sohnes zumindest aufgrund seines Alkoholskonsums mittelbar Schuld gewesen ist. Auch wenn beide Figuren eine scheinbar undurchdringliche Fassade um sich herum aufgebaut haben, zeigt Iglesia am Ende des Films, wie dünn die Haut wirklich geworden ist. Natürlich geht es ihm auch um das Kind im Manne und die Botschaft, das kurze Leben so zu leben, dass man jeden Augenblick genießen kann. Nicht auf Kosten anderer Menschen, sondern als Geschenk Gottes. Das Kind im Manne, der die ganze Welt als seinen persönlichen Spielplatz sieht, ist vielleicht das elementarste Thema, für das Iglesia allerdings auch keine Antwort geben kann. Wenn am Ende seine Westernkarikaturen aufwachen, erwachsen werden, erkennen sie, dass sie die Illusion ihrer Scheinexistenz nicht mehr aufrecht erhalten können Mit dem Aufwachen kommt allerdings auch der Kater. Iglesia macht es sich allerdings am Ende auch leicht. Nachdem sie sich mit der Obrigkeit angelegt und Polizisten verletzt haben, dürfen sie scheinbar ungestraft am Grab ihres Anführers trauen. Hier wäre es sinnvoll gewesen, den Bogen zu den Blues Brothers zu schlagen und die Protagonisten in Ketten zu zeigen. Diese Art von schrägem Humor passt auch besser zu Iglesia, der mit den anrührenden, aber nicht kitschigen Schlussbildern seines Film endgültig seine Liebe gegenüber dem Western erklärt.
Die bittersüße Geschichte zweier unterschiedlicher Seelen und ihre Liebe zu der Irrealität des Kinos ist aber auch das exzentrische Remake einer der schönsten Kinofilme: „Cinema Paradiso“. Das Verhältnis zwischen dem anfänglich eher nervigen Jungen Carlos und seinem liebenswert trotteligen Großvater ist einer der Höhepunkte des Films. Zu den romantisch überdrehten Höhepunkten des Films gehört das „Plündern“ einer Tankstelle. Die Cowboys sind auf ihren Pferden vorgeritten und kaufen alles, was zu einer zünftigen Party gehört: Bier, Spirituosen, Zigaretten und Pornohefte. Der Junge zahlt als letzter mit seiner goldenen Kreditkarte und dann reiten die Cowboys in den Sonnenuntergang zu ihrer alten Westernstadt. Oder einen Augenblick vorher, als sie um ihren Anführer aus dem Gefängnis zu befreien, durch die vollen Straßen der Stadt reiten, von den Menschen spontan bejubelt. Zumindest in „800 Bullets“ zeigt Iglesia, dass unsere Vorstellung vom Western weiterlebt und weiterleben wird, solange es Menschen gibt, sich nicht konform mit der Masse gehen. Zusammen mit seinem Kameramann Labiano ist er allerdings noch einen Schritt weitergegangen. Immer wieder erinnern Schnittfolgen und Kameraperspektiven an die klassischen Italowestern eines Sergio Sollimas, eines Sergio Corbuccis und schließlich natürlich an den großen Sergio Leone. Wenn der Großvater zum ersten Mal mit seiner jetzt mit echten Kugeln geladenen Winchester wieder die Westernstadt betritt, entschlossen gegen den Abriss zu kämpfen, zeigt die Kamera ihn in einer atemberaubenden Gegenlichtperspektive. Wie oft hat der Zuschauer schon Clint Eastwood in einer ähnlichen Situation angesehen? Dass Iglesia aber nicht alles wirklich ernst nimmt, zeigt er in einer anderen Sequenz. Der Großvater ist nicht die einzige Figur, die einen gewaltigen Auftritt hat. Seine Tochter stört eine der wenigen gut besuchten Westernaufführungen in der Stadt, in dem sie mit ihrem Wagen die Straße entlang fährt, aussteigt, sich breitbeinig im kurzen Rock neben den Wagen stellt, Hände in den Hüften und am liebsten mit einer imaginären Waffe ihren Vater erschossen hätte. Geschickt doppelt Iglesia im Verlaufe des Films diese beiden Szenen und zwingt den Zuschauer immer wieder, das komische Element in dieser tragischen Geschichte auch zu berücksichtigen.
Zusammengefasst ist „800 Bullets“ vielleicht Igleasis publikumsfreundlichster Film. Dem Zuschauer bleiben bei dem Film sehr viele herausragende Einzelszenen im Gedächtnis. Das Thema Western ist ambivalent, die skurrilen Charakter annehmbar und teilweise sehr sympathisch. Neben der stringenten Handlung – im Vergleich zu einigen seiner anderen Film eine geradezu simple Abfolge von Ereignissen – wird mit gut präsentierten Episoden aufgelockert und ergibt einen auch optisch interessanten Film, einen Neowestern für Menschen, die keine Pferdeopern mögen, einen Film für die Kindern in den Männern und Frauen, die von der grenzenlosen Freiheit und vor allem der Flucht aus der Verantwortung träumen. Die aber in letzter Sekunde aufwachen und sich dem Schicksal stellen.
E-M-S hat den Film auf einer Einzel-DVD mit einigen Extras veröffentlicht. Das Bild ist im 2.35:1 Format und sehr gut. Die Farben stimmig, insbesondere die Kontraste sehr überzeugend. Iglesia hat sich zusammen mit seinem Kameramann Flavio Martinez Labiano bemüht, nicht nur die Kameraperspektiven der alten Italo-Western zu imitieren, sondern deren oft unübertroffene, aber auf Zufällen basierende Farbgestaltung. Die DVD verfügt über zwei Tonspuren. Die spanische Spur ist sehr gut untertitelt. Die deutsche Synchronisation schafft es, eine Reihe von Wortspielen außergewöhnlich gut zu übersetzen und vor allem sind einige der Synchronstimmen in Anlehnung an die alten Zeiten passend ausgewählt worden. An einigen Stellen des Films empfiehlt es sich fast, die Augen zu schließen und einfachen den Stimmen zu lauschen. Schon kommt man sich wieder wie in den alten „Django“-Filmen vor. Zu den Extras neben dem obligatorischen Trailer und einer Photogalerie ein Storyboard-Film-Vergleich sowie Teaser und TV- Spots. Deleted Scenes und ein alternatives Ende – das verwendete ist deutlich besser – runden das Paket gut ab. Die Filmographie der Beteiligten gibt dem Zuschauer eine Reihe von Anregungen in Hinblick auf weitere empfehlenswerte Werke. Der Höhepunkt ist allerdings das mit knapp über zwanzig Minuten sehr interessante Making Of , in dem Iglesia mehrmals betont, wie sehr er das Genre und vor allem diesen Film liebt. Immer wieder streut der Regisseur allerdings auch ein, dass „800 Bullets“ sicherlich auch ein Wagnis für den Verleih an sich dargestellt hat und wie es um die spanische Filmszene per se steht. Ein interessanter, vor allem vielschichtiger Beitrag.
DVD-Facts:
Bild: 2,35:1 (anamorph / 16:9)
Ton: deutsche Dolby Digital 5.1., spanisch Dolby Digital 5.1
Untertitel: deutsch
DVD-Extras:
Making of, Deleted Scenes, Interviews, Teaser, Trailer