The Abandoned - Die Verlassenen
2006, Regie: Nacho Cerda, mit Anastasia Hille, Jordanka Angelova, Kalin Arsov u.a.
Von Thomas Harbach
Dem spanische Regisseur Nacho Cerda gelingt mit „The Abandoned“ eine ungewöhnliche Mischung aus den italienischen Horrorfilmen eines Lucio Fulcis (mit allerdings sehr gezielt und nachhaltig eingesetztem Gore-Szenen), der melancholischen russischen Seele eines Andrei Tarkovsky und einer inhaltlichen Hommage an Autoren wie Ambrose Bierce. Dabei handelt es sich bei der spanisch- amerikanischen Produktion um das Langfilm-Regiedebüt Cerdas. Bislang ist der Spanier erst durch einige wenige Kurzfilme, von denen „Aftermath“ und „Genesis“ inzwischen auf DVD erschienen sind und eindeutig Fingerübungen für den vorliegenden Film darstellen, sowie das Making Of von Brad Andersons herausragendem „The Mechanist“ in Erscheinung getreten. Das Budget des vorliegenden Films soll bei etwa drei Millionen Euro gelegen haben. Visuell überzeugend und von Andersons irrealer Gestaltung beeinflusst schwächelt Cerda rückblickend auf der storytechnischen Seite. So fließend, unheimlich, bizarr und bedrohlich der Plot auch auf den ersten Blick erscheint, überzeugt die Mischung aus vorbestimmtem Schicksal, Zeitschleife und allgegenwärtiger Bedrohung eher durchschnittlich, wenn man beginnt, den Plot zu analysieren. Hier unterliegt Cerda der Faszination seiner Bilder und wandelt ein wenig auf David Lynchs Pfaden, dessen Roadmovies - allerdings in ein ländliches Russland versetzt - diesem Film insbesondere zu Beginn ähnelt.
Wie es sich für einen Horrorfilm gehört, muss der Plot mit einer bizarren Bilderfolge eingeleitet werden. Eine russische Bauernfamilie sitzt bei Tisch, sie hören ein unheimliches Geräusch. Ein ehemaliger Militärlaster fährt vor. Unter der Tür tropft Blut hervor. Der Mann öffnet die Tür, hinter dem Steuer sitzt eine tote Frau. Neben ihr schreien zwei gerade geborene Babys sich die Seele aus dem Leib. Schnitt und Zeitsprung über vierzig Jahre.
Anscheinend ist Marie Jones (Anastasia Hille überzeugt in der nicht einfachen Rolle als unsichere Mutter eines Teenagers, mit der sie sich nicht einmal über Handy aussprechen kann) als kleines Baby in ihrer Heimat Russland von einer britischen Familie adoptiert worden. Mittlerweile lebt sie in den USA und arbeitet als erfolgreiche Filmproduzenten. Ein russischer Anwalt bittet sie, nach Moskau zu kommen, um das Erbe ihrer verstorbenen Mutter – anscheinend ist die junge Frau doch nicht tot gewesen? - anzutreten. Zu diesem Zeitpunkt bewegt sich Cerda sehr eng in David Lynchs „Twin Peaks - Fire walks with me“-Territorium. Wie eng, wird der Zuschauer erst am Ende des Films im Epilog erkennen.
Das heruntergekommene Anwesen liegt abgelegen mitten im Sumpf auf einer Insel. Der schroffe Fahrer Anatoliy kennt den Weg dorthin. Am Ziel ist Anatoliy plötzlich verschwunden. Marie durchstöbert allein das alte Gemäuer und wird dabei sogleich von ersten übersinnlichen Erscheinungen heimgesucht. Sie sieht Menschen/Schatten mit blicklosen Augen. Sie flieht und landet im Fluss. Als Retter in der Not erweist sich Nicolai. Er will Marie überzeugen, dass er in Wahrheit ihr Zwillingsbruder ist, er sich genau wie sie auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit befindet. Seiner Ansicht nach sind die Zombies Abbilder ihrer selbst und zeigen ihr zukünftiges Schicksal. Anscheinend hat ihr Vater ihre Mutter angegriffen und wollte auch die Kinder töten.
Die erste Hälfte des Films dominiert das heutige moderne Russland genauso wie die Klischees von der beeindruckenden, unvergänglichen und zeitlosen Natur des unendlich erscheinenden Landes. Ganz bewusst manipuliert Cerda mit verzerrten Perspektiven, Hintergrundgeräuschen, grauen, unnatürlichen Farben und vor allem nicht untertitelten Passagen in russischer Sprache seine Zuschauer. Er isoliert Marie Jones, die selbstbewusste, nicht mehr ganz junge Frau von ihrer vertrauten Umgebung. Das liegt auch an den Schauspielern mit ihren gelebte und zum Teil vom harschen Leben zerfurchten Gesichter. Selbst in den Weiten der russischen Sumpflandschaften weicht die erdrückende Atmosphäre von kontinuierlicher Bedrohung und Beobachtung, von Isolation und Angst nicht vom Zuschauer und stellvertretend für ihn von Marie Jones. Wenn der Film schließlich mit ihrem Zwillingsbruder weit über das erste Drittel hinaus einen Verbündeten einführt, ist ihre erste Reaktion, ihn mit einem Stuhlbein niederzuschlagen. Ganz bewusst hat Cerda sehr effektiv die Spannungsschraube auf der emotionalen Ebene bis zum Brechen angezogen. Dieser Spannung muss er in der Mitte des Films Luft geben. Zwar verbringen Nicolai und Marie eine beträchtliche Zeit in dem verrotteten Haus, mit subjektiver Kamera und ganz bewusst schlechter Beleuchtung nur aus den schwachen Taschenlampen hält Cerda den Spannungsbogen hoch, aber schnell lassen sich diese einzelnen Suspense-Sequenzen zu sehr austauschen und treiben die Handlung nicht weiter voran.
Im positiven Sinne kann der Zuschauer diesen Film zu Beginn keinem Genre zuordnen. Horrorelemente klassischer Natur – Geistererscheinungen, unheimliche Geräusche, das Gefühl der Bedrohung – sind im Überfluss vorhanden, aber wenn Nicolai etwas vom vorbestimmten Schicksal sagt, wird das Spektrum breiter. Der einfache Gruselgespensterfilm weicht zumindest ansatzweise der Möglichkeit eines Science Fiction-Films. Sind die beiden Menschen in einer Zeitschleife gefangen, ausgelöst vielleicht durch geheime russische Experimente, wie es die Amerikaner im „Philadelphia Experiment“ versucht haben? Oder ist die Erklärung noch einfacher: Leidet Marie unter Wahrnehmungsstörungen? In einer Szene früh im Film doppelt Cerda sehr geschickt den Charakter, der Zuschauer sieht Marie im Spiegel und gleichzeitig auf dem Bett ein frustrierendes Gespräch mit ihrer Tochter führend, eine zweite Doppelszene wird erst am Ende des Films rückblickend, aber nicht unbedingt zufriedenstellend erläutert.
Der Versuch, zwischen den unterschiedlichen Genres zu vermitteln und mittels immer wieder eingestreuter fast surrealistisch schockierender Momente den Zuschauer zu manipulieren und fast in der Tradition solcher Filme wie „Blair Witch Project“ oder „Last Broadcast“ zu manipulieren, greift nicht in allen Szenen wirklich zufriedenstellend. Insbesondere der Mittelteil des Films wirkt teilweise zu lang und zu überambitioniert gestaltet. Hier wäre es sinnvoll gewesen, den Film um zehn Minuten zu straffen. Dagegen ist die den Schluss-Showdown einleitende Sequenz, in welcher sich Nicolai und Marie in einem Raum verschanzen, viel zu hektisch inszeniert. Cerda versucht den Bogen zu schnell zu den folgenden, nicht mehr grundsätzlich zu erklärenden und deswegen distanziert erscheinenden Szenen zu schlagen und vergisst, die notwendige und den Plot treibende Spannung wieder aufzubauen. Der Zuschauer verliert in erster Linie aufgrund der soliden Schauspielerleistungen nicht das Interesse am Film.
Mit Anastasia Hille steht Cerda eine interessante Schauspielern zur Verfügung, die überzeugend eine über vierzigjährige immer noch sportliche, attraktiv, aber nicht übertrieben ausstaffierte Frau verkörpert. Sie hat in ihrem beruflichen Leben sehr viel erreicht, konnte aber die innere Leere nicht überwinden. Für sie ist es vordergründig eine Reise in die eigene Vergangenheit. Mehr und mehr stellt sich heraus, dass sie der Protagonistin aus „Carnivals of Souls“ ähnelt, die nach einer vergleichbaren Expedition durch das Hinterland Amerikas schließlich ihr vorherbestimmtes Schicksal ereilt. Löst der Zuschauer insbesondere „Abandoned“ von seinen atemberauben Landschaftsaufnahmen und seinen teilweise doch sehr brutalen Szenen – insbesondere am Ende der Auftritt der Wildschweine – können die Ähnlichkeiten zu „Carnivals of Souls“ nicht unbedingt Zufall sein. Dazu kommt, dass Richard Stanley – viele Jahre nach seinem immer noch sehenswerten „Dust Devil“ hat er am Drehbuch mitgearbeitet – in einigen Interviews die surrealistische Atmosphäre des amerikanischen Low Budget-Films mehrmals gelobt hat. Dabei legt Cerda seinen Film allerdings komplexer und teilweise komplizierter an. Viele Versatzstücke wird der Zuschauer erst in einer Art Epilog erkennen, die einzelnen handlungstechnischen Schleifen schließen nacheinander und münden in dem allerdings wenig überraschenden und rückblickend nicht unbedingt logischen Ende. Immerhin gibt es in dem ganzen Film nur einen LKW, der entweder zweimal als Fluchtfahrzeug dient oder als Wrack hinter der Scheune vor sich hin gammelt. Über weite Strecken wird der Betrachter allerdings von diesen Schwächen sehr gut abgelenkt.
Cerda gelingt es sehr gut, insbesondere im ersten Drittel des Films die Zuschauer immer wieder mit falschen Schocksequenzen aus dem fast lethargischen, atmosphärisch aber dichten Aufbau herauszureißen und ihnen vor Augen zu halten, dass sie hier keinen Reisefilm, sondern einen Horrorfilm serviert bekommen. Die schwächsten, manipulierenden Momente findet der Zuschauer gleich nach Maries Ankunft auf der geheimnisvollen Insel. Sie ist alleine in dem Lastkraftwagen, ihr Fahrer ist vorangegangen, das Haus zu untersuchen. Mit lauten Schreien und Geräuschen, mit einer schattenhaften Gestalt, die im Scheinwerferlicht durch den kaum beleuchteten Wald gleitet und schließlich den aus der Froschperspektive gefilmten hohen alten Bäumen stimmen die einzelnen atmosphärischen Komponenten, aber teilweise überspannt Cerda den Bogen. Er lässt den Zuschauern nicht den Raum und die Zeit, sich auf diese einzigartige Atmosphäre einzustellen. Insbesondere die Nutzung der unheimlichen Stimmen hätte nuancierter und gezielter eingesetzt werden können. Während man den Film anschaut, wird einem der versuchte Overkill nicht gleich auffallen, aber rückblickend stimmt die Balance in den einzelnen Filmteilen manchmal nicht. Cerda macht den Anfängerfehler, den Zuschauer nach Abschluss einer Handlungssequenz noch einmal tüchtig erschrecken und verunsichern zu wollen. Doziert und effektiv eingesetzt ein probates Mittel, um insbesondere in atmosphärisch dichten Filmen mit wenigen Actionelementen die Spannung hochzuhalten. Im Grunde braucht Cerda auf diese manchmal sehr simpel eingesetzten Stilmittel nicht zurückgreifen, alleine seine überzeugende visuelle Souveränität hält den Spannungsbogen hoch. Zusammen mit Marie versucht der Zuschauer dieses wunderschöne und doch alptraumartige Land, dieses einsame labyrinthartige Haus auf einer isolierten Insel zu begreifen.
In der zweiten Hälfte des Films nutzt er die Schockeffekte deutlich raffinierter und effektiver. Wenn wie durch einen Zeitraffer das Haus sich in den Zustand von vor vierzig Jahren bringt, ist diese Sequenz auch ohne ablenkende Geräusche oder klischeehaft Gespensterelemente verstörend und gruseliger, als einige wenige Gore-Sequenzen zuvor und dahinter. Dabei hat er seinem Film mit einer vorangestellten Szene fast die Effektivität genommen. Nicolai schießt auf den männlichen Zombie und die Kugel schlägt in seinem eigenen Bein ein. Spätestens hier weiß der Zuschauer, in welchem engen Zusammenhang die beiden Lebenden Toten und Marie sowie Nicolai stehen. Die anschließend sehr blutige Operation bei vollem Bewusstsein, um die Kugel herauszuholen, ist unnötig blutig. In diesem Moment droht auch Cerdas Film zu kippen. Der erfahrene Zuschauer hofft, dass sich diese Andeutungen als weitere falsche Spur erweisen und der Regisseur bemüht sich, diesen Zweifel im Zuschauer weiter zu säen, um dann leider zu hektisch und fast einfallslos, aber optisch wieder brillant inszeniert, die Ahnungen zu bestätigen. Die Versuche, insbesondere Filmemacher wie David Lynch mit einem Horrorfilm zu imitieren, werden nicht befriedigend abgeschlossen. Parallele Realitäten, sich überlagernde Zeitebenen und schließlich ein nicht zu durchbrechender, vom Schicksal bestimmter Kreislauf überfordern Cerda und distanzieren seinen grundsoliden Horror-Thriller von seinem Zielpublikum. Dazu fehlt die intelligente, surrealistisch groteske Auflösung des Plots, die Souveränität bis Frechheit, dem Publikum eine im Kern unmögliche Geschichte mit einem ernsten Gesicht und künstlerisch bis zum Overkill stilisierten Plot zu präsentieren. Unabhängig davon beherrscht Cerda über weite Strecken das Instrumentarium des modernen Gespensterfilms und schickt seine Protagonistin zusammen mit den Zuschauern durch ihre persönliche „Hölle“. Vor allem verzichtet er bis auf zwei Sequenzen auf die obligatorischen Gore-Effekte und vertraut seinem Spannungsaufbau. Die beiden Szenen sind aber sehr unangenehm realistisch und verstörend. Mit dieser souveränen Komposition ähnelt der Film „Fragile“, einem weiteren sehr empfehlenswerten spanischen Gespensterfilm, mit welchem „ The Abanoned“ nicht zufällig den exzellenten Kameramann teilt.
Trotz einiger inhaltlicher Schwächen ist „The Abandoned“, insbesondere dank seiner optischen Präsentation Bulgariens als Russlands Weiten, ein ungewöhnlicher, teilweise verstörender Geister-Thriller, der sein geringes Budget hinter guten Kameraführungen, einer intensiven nihilistischen Atmosphäre und überzeugenden, charismatischen und bodenständig agierenden Schauspielern verstecken kann. „Blair Witch Project“ – was die subjektive Kameraführung angeht – und David Lynchs „Lost Highway“ haben sicherlich Pate gestanden. Für einen Erstling ist Cerda ein solider Horrorthriller gelungen, welcher die augenblickliche Vormachtsstellung spanischer Regisseur im europäischen Horror betont, dessen Ambitionen, insbesondere das Arthauspublikum anzusprechen, aber über das Ziel hinausgehen.
Die Bild und Tonqualität der bei E-M-S erschienenen DVD sind herausragend. Das 2.35:1 Bild ist gestochen scharf, die Farben entweder naturalistisch oder in den grotesken Traumsequenzen verstörend surrealistisch. Insbesondere die in der Nacht spielenden Passagen erscheinen schwarz und unterstreichen die mit unterkühlten Farbtönen absichtlich hervorgerufene bedrohliche Atmosphäre. Die Tiefen und Weiten sind sehr gut wiedergegeben und die Tonspuren betonen die teilweise überzeichneten Nebengeräusche fast zu stark. Das wird beim ersten Schwenk nach dem Prolog auf die landende Maschine am Moskauer Flughafen sehr deutlich. Zu den Extras gehören eine Bildergalerie, der gute Originaltrailer und ein kurzes Making Of, das einen soliden Eindruck von den Dreharbeiten vermittelt.
DVD-Facts:
Bild: 2,35:1 (anamorph / 16:9)
Ton: deutsch Dolby Digital 5.1, deutsch dts 5.1, englisch Dolby Digital 5.1
Untertitel: deutsch
DVD-Extras:
Making of, Trailer, Bildergalerie