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Stephenson, Neal: Anathem (Buch)

Neal Stephenson
Anathem
Harper Collins, 2008, Hardcover, 937 Seiten, ca. 19,95 EUR, ISBN 978-006147409-5

Von Oliver Naujoks

Einen neuen Roman von Neal Stephenson „irrsinnig ambitioniert“ zu nennen, sei eigentlich schon redundant, befand LOCUS-Rezensent Paul Witcover in seiner Besprechung von „Anathem“. Bei einem so gewaltigen Monolith von einem Roman in jeglicher Hinsicht, fühlen sich viele Rezensenten bemüßigt, mit sehr langen Besprechungen einem solchen Buch gerecht werden zu wollen und ‚beizukommen’. Dies hat dann häufig den Nachteil, dass potentielle Leser und Käufer, die schon vom Umfang des Romans abgeschreckt werden, wohl auch irrsinnig ambitionierte Rezensionen aus Umfanggründen eher meiden. Versuchen wir es also anders und fassen wir uns so kurz wie möglich. Was kaum möglich ist.

Was ist „Anathem“? „Anathem“ ist der achte Roman des US-Starautors Neal Stephenson, der mit „Snow Crash“ (1992) und „The Diamond Age“ (1995) zwei der unbestritten wichtigsten SF-Romane der 90er geschrieben hat, sich vordergründig mit einem brillant recherchierten Roman über Kryptographie namens „Cryptonomicon“ (1999) und einem fast 3000seitigen, dreiteiligen Historienepos namens „The Baroque Cycle“ (2003-2004) etwas von der SF abwandte, und nun mit „Anathem“ in dieses Genre mit einem Paukenschlag zurückkehrte.


„Anathem“ spielt auf dem erdähnlichen Planeten Abre, auf welchem sich Philosophen und Denker in klosterähnliche Gemeinschaften namens Maths zurückgezogen haben. Diese klosterähnlichen, Concents genannten Anlagen sind in konzentrischen Kreisen angeordnet und je mehr man sich der Mitte nähert, desto weniger haben die dortigen „Mönche“, im Roman Avouts genannt, mit der Außenwelt zu tun, denn der äußerste Kreis öffnet sich nur ein mal für ein paar Tage im Jahr, der nächstinnere Kreis nur ein paar Tage alle zehn Jahre, dann alle hundert und schließlich alle tausend Jahre. In der Geschichte des Planeten Abre kam es immer mal wieder vor, dass geistige und technische Fortschritte aus diesen Maths zu schnell in die „säkulare“ Welt eindrangen, die Gesellschaft radikal änderten und als Gegenreaktionen drei große Plünderungen dieser Maths nach sich zogen, so dass sich diese Avouts vor einer 4. Großen Plünderung sehr fürchten. Diese Weltordnung (fürs Protokoll: Mit Religion haben Autor, Buch und Charaktere dabei wenig am Hut) funktioniert lange Zeit, bis eines Tages plötzlich ein außerirdisches Raumschiff gesichtet wird, das gesellschaftsumstürzende Ereignisse in Gang setzt…


Das Besondere und Originelle an „Anathem“ ist nicht, dass er einen erdähnlichen Planeten schildert, der für uns irdische Leser natürlich immer einen Spiegel darstellt, den der Autor uns vorhält. Das ist einer der häufigsten Topos der Science Fiction. Das wirklich Besondere und Originelle an „Anathem“ ist, dass er sich einem Thema widmet, das andere SF-Romane immer aus nachvollziehbaren Gründen ausblenden und für selbstverständlich voraussetzen: Andere, erdähnliche Gesellschaften müssen zwangsläufig eine andere Geistesgeschichte erlebt haben, die aber letztlich in vergleichbare Gesellschaftsformen und Erkenntnisschätze mündete. Dieser Beschreibung widmet Stephenson einen großen Teil des Romans, wobei er keinesfalls nur eine andere Philosophie- und Geistesgeschichte erdacht hat und nun ausführlich diskutieren lässt, sondern auch vergleichbare, aber doch andere philosophische Systeme. Ferner erdachte der Autor in vielen Begrifflichkeiten abweichende Beschreibungen. Kein Wunder, dass sich hinter dem Roman ein 19seitiges Glossar findet, in der ersten Hälfte ist für den Leser hier ordentlich Büffeln und Glossar konsultieren vonnöten; ja, das ist nicht ganz unanstrengend, bis man die ‚Anathem’-spezifischen Begrifflichkeiten verinnerlicht hat. Wobei dies durchaus vergnüglich ist, denn diese Begrifflichkeiten sind häufig ferne Echos romanischer oder indogermanischer Wurzeln und fast greifbare Anleihen. So heißt Technik z.B. „Praxis“, Filme „Speelycaptors“, Paralleluniversen „Multicosmi“ – und „Bullshytt“ braucht man wohl nicht erklären.

Der Roman ist unterteilt in Kapitelüberschriften, die sich nach Zeremonien in diesen „Concents“ benennen und erkennbar in drei Akte gegliedert. Im ersten Akt wird in irrsinniger Ausführlichkeit das „Klosterleben“ und vor allem die Klöster selbst beschrieben, in der zweiten Hälfte zieht eine Gruppe dieser Avouts (na, Begriff von oben noch behalten?) aus, um sich auf die Spur eines verschwundenen Fraa (=Bruder) und des außerirdischen Schiffs zu machen, und der dritte Akt mündet in eine fulminante Space Opera ein, die ein Feuerwerk an Action und vor allem Ideen abbrennt, dabei aber für SF-Fans durchaus wiedererkennbare Enthüllungen bietet. Glücklich stellt man dort fest, dass sämtliche besonderen Eigenarten des Romans tatsächlich dem Handlungskonzept dienen und somit eine beeindruckende Einheit von Inhalt und Form geschaffen wird.

Bis dahin hat man aber viel harte Lesearbeit, Zähneknirschen und auch Zweifel vor sich, Zweifel ob das enervierend schleichende Handlungstempo, die absurd ausführlichen Beschreibungen und der ganze Bombast mit Spezial-Vokabular und „Anathem“-eigener Geistesgeschichte wirklich und hoffentlich mehr sind, als reine intellektuelle Selbstbefriedigung des Autors. Ja, es ist mehr, aber der Weg dorthin ist lang und steinig. Das soll nicht verschwiegen werden, bei allen Versüßungen durch engagierende und faszinierende Diskussionen der Charaktere, mit denen man mehrere populärwissenschaftliche Bücher füllen könnte und den fulminanten Enthüllungen in der zweiten Hälfte.

Mit „Anathem“ empfiehlt sich Neal Stephenson einmal mehr als origineller und manchmal brillanter Kopf, diesmal über weite Strecken aber nicht als großartiger Geschichtenerzähler. Bei all den tollen Ideen schaden die zwar bewusst als Chiffren angelegten, aber austauschbaren und blassen Charaktere und die allzu lässige Handlungsführung in der ersten Hälfte dem Buch mehr, als es das verdient hat. Letztlich überwiegen die Belohnungen für den aufmerksamen Leser zwar die negativen Aspekte, der Roman sei aber vorsichtshalber im Wesentlichen einem Publikum anempfohlen, das nicht nur nach originellen Stoffen sucht, sondern auch Geduld aufzubringen bereit ist. Viele andere werden sicherlich irgendwo in der ersten Hälfte auf der Strecke bleiben – auch wenn sie durch ein ungewöhnliches Vorwort, das die Eigenarten eines SF-Romans (verbal als „speculative fiction“ getarnt, um Stigmatisierungen zu vermeiden) erklärt, zunächst in falscher Sicherheit gewogen werden.

Klappt man das Buch zu, kann man gar nicht anders, als die Ambitioniertheit und den Ideenreichtum des Autors zu bewundern und sich anerkennend auszumalen, welchen schieren Kraftakt dieser Roman für den Autor bedeutet haben muss; Bewunderung ist aber etwas anderes als ungebremste Begeisterung. Zumindest über 937 Seiten hinweg.

hinzugefügt: November 8th 2008
Tester: Oliver Naujoks
Punkte:
Hits: 2450
Sprache: german

  

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