From Hell
Autor: Alan Moore
Zeichner: Eddie Campbell
Mitwirkender Zeichner: Pete Mullins
Übersetzung: Gerlinde Althoff
Lettering: Matthias Rottler, Torsten Tag, Amigo Grafik
Cross Cult, 2008 Hardcover, 604 Seiten, 49,80 EUR, ISBN 978-3-936480-53-5
Von Frank Drehmel
Moores und Campbells „From Hell“ basiert in seinem Grundplot auf dem umstrittenen Buch Stephen Knights, „Jack the Ripper: The Final Solution“, das 1976 zwar als Sachbuch erschien, das aber so viele Ungenauigkeiten, Spekulationen und Widersprüche enthält, dass es außerhalb des Knight-Fandoms in seiner zentralen Aussage gemeinhin ins Fiktionale eingeordnet wird.
Prinz Albert Victor, Duke of Clarence and Avondale, zeugt mit der bürgerlichen Annie Elizabeth Crook ein uneheliches Kind und heiratet nach der Niederkunft heimlich die junge Frau im Beisein seines Freundes, des Malers Walter Sickert. Da Alberts Großmutter, Königin Victoria, diese Kompromittierung des englischen Königshauses nicht dulden will, trennt sie die Eheleute, lässt Albert entführen und Annie in eine Irrenanstalt einweisen.
Doch damit ist der Fall nicht aus der Welt, denn vier Prostituierte aus dem Londoner Stadtteil Whitechapel haben Kenntnis von den Vorgängen und versuchen das Ungeheuerliche: die Erpressung des britische Königshauses.
Victoria bitte daraufhin den Leibarzt Alberts, Dr. William Gull, sich des Problems anzunehmen. Gull selbst gehört zum Bund der Freimaurer und folgt damit einer Ideologie, der Symbolismus und archaische Rituale nicht fremd sind. Da sich Gull außerstande sieht, sich der Frauen alleine zu entledigen, heuert er den Kutscher John Netley an, dem er zunächst das Wesen der Freimaurerei erläutert, um ihn dadurch gefügig für die bevorstehenden, rituell inszenierten Morde an den vier Erpresserinnen zu machen.
Kurz darauf beginnt Gull - unterstützt von Netley - mit kühler Präzision sein mörderisches Handwerk und hinterlässt die erste verstümmelte Frauenleiche. Seine Beziehungen in höchste gesellschaftliche, freimaurerische Kreise und das Agieren im Auftrag ihrer Majestät bewahren ihn trotz des monströsen Charakters der Taten dabei vorerst vor den Nachstellungen Scotland Yards.
Als jedoch ein Mord dem nächsten folgt und die Stimmung in der Bevölkerung Whitechapels ins Aufrührerische umzuschlagen droht, sieht man sich seitens der Polizei gezwungen, Ermittlungen anzustellen, holt den zuvor nach Whitehall versetzen Frederick Abberline zurück nach Whitechapel und ernennt ihm zum leitenden Detektiv im Fall der „Ripper“-Morde.
Obgleich dieser Auftrag für Abberline nach eigenem Empfinden einer Degradierung gleich kommt, macht er sich mit Verstand, Fingerspitzengefühl und einem Vorgehen, das an modernes Profiling erinnert, an die Klärung der Morde und kommt dabei der Verschwörung stetig näher.
Auch wenn Moore und Campbell Knights Thesen als Ausgangspunkt ihres Comics nehmen, so sind sie sich erstens der historischen Schwächen dieses Ansatzes bewusst – wie Moore im 56-seitigen Anhang mehrfach ausführt – und ergänzen ihre Geschichte zweitens um offensichtlich fiktionale Elemente.
Diese Klarstellung ist notwendig, um sich bewusst zu machen, dass es sich bei „From Hell“ insgesamt um ein fiktionales Werk, das Werk eines Romanciers handelt, das sich zwar aus dem Fundus historischer Fakten bedient, an das man als Leser jedoch nicht den strengen Maßstab eines Geschichtswissenschaftlers anlegen sollte, selbst wenn sich der Schöpfer in umfangreichen, informativen Erläuterungen im Anhang bemüht, einzelne Szenen mit Quellen zu untermauern bzw. in ihren historischen Kontext einzuordnen.
Insbesondere die zentrale Frage, weshalb Königin Victoria mit Dr. Gull einen – Freimaurer hin oder her – außenstehenden Amateur mit der Lösung ihres Problems beauftragt und nicht auf die professionelle Unterstützung z.B. des von Sir Francis Walsingham rund 300 Jahre zuvor gegründeten britischen Geheimdienstes, für den solche delikaten Angelegenheiten zweifellos zum Tagesgeschäft gehören, zurückgreift, bleibt unbeantwortet.
Dementsprechend liegt die Stärke des Comics nicht in der historischen Wahrheit des Grundplots um einen real aber auch fiktional wenig plausiblen Verschwörungs-Hintergrund der Ripper-Morde, sondern erstens in der Art und Weise, wie sich Moore erzählerisch dem Thema nähert, und zweitens in der Darstellung der gesellschaftlichen Hintergründe im London des Jahres 1888 sowie des Innenlebens der zentralen Figuren.
Augenfällig ist zunächst, dass Moore die Geschichte ausschließlich über Sprechblasen-Dialoge sowie „stumme“ Bilder entwickelt, also auf sogenannte „Narrative Boxes“, welche oft zusätzliche Erläuterungen der Szenen enthalten, verzichtet. Einzige Ausnahme von dieser Regel bilden einige Traumsequenzen, in denen der Leser die subjektive Perspektive eines Protagonisten einnimmt, um durch dessen Augen die Welt zu betrachten und dessen Gedanken zu „lauschen“.
Durch die Absage an die Position eines allwissenden Erzählers, welcher quasi außerhalb der Dialoge und Bilder steht, bindet Moore den Leser unmittelbar in das Geschehen ein, überlässt es ihm, das Gesehene zu interpretieren.
Die zweite Besonderheit stellen die parallel laufenden Handlungsstränge dar, zwischen denen der der Autor wechselt und in denen jeweils sowohl die Lebensumstände als auch die psychologischen Hintergründe der Opfer, des Täters und – später auch – des Ermittlers so ausführlich erläutert werden, dass die Geschichte zuweilen zwar umständlich und langatmig wirkt, dafür jedoch eine beeindruckende Authentizität und Tiefe aufweist.
Die Einbindung zahlreicher historischer Persönlichkeiten – des Malers Walter Sickert, des Architekten Nicholas Hawksmoor, dessen profane und sakrale Baukunst im Comic als zentraler Anknüpfungspunkt für Dr. Gulls freimaurerische Wirklichkeits-Exegese herhalten muss, sowie des „Elefantenmenschen“ Joseph Merrick, u.a. - tragen zum authentischen Gesamteindruck dieses Comics maßgeblich bei.
Schlussendlich stellt der umfangreiche Anhang, in welchem Alan Moore einzelne Szenen rechtfertigt, erläutert oder interpretiert, in seiner Ausführlichkeit ein Novum im Genre dar; allerdings wird dieser außergewöhnliche – fast schon wissenschaftliche - Ansatz dadurch etwas geschmälert, dass Moore auf ein zusammenfassendes, explizites Quellenverzeichnis verzichtet.
Das schwarzweiße Artwork Campbells erweist sich gleichermaßen brillant wie verstörend. Als Erstes fällt das formal strenge Layout ins Auge: bis auf wenige Ausnahmen sind die Seiten entweder in neun gleichgroße, rechteckige Panels aufgeteilt oder in sieben Panels – sechs gleichgroße und ein Panel in dreifacher Breite -, wobei die Bilder durch weiße Zwischenräume und deutliche Linien klar gegeneinander abgegrenzt sind.
Campbells Duktus ist schnell und skizzenhaft grob; Grautöne, Tiefe und Nuancen werden durch lockere Schraffuren, deren Richtung gegebenenfalls auch gegeneinander gesetzt ist, erzeugt. Eine Ausnahme stellen einige schwarzweiß aquarellierte Abschnitte dar, deren abweichender Stil in der unmittelbaren Gegenüberstellung den Kontrast zwischen East-End- und West-End-Lebensstil von Polly Nicholls und William Gull illustrieren soll.
Trotz des unbestimmten Strichs ist Campbells Artwork - nicht zuletzt wegen des strengen Layouts - von einer Dichte, von einer expliziten, brutalen, voyeuristischen Härte und Emotionslosigkeit, die den Leser sofort gefangen nimmt und ihn die gnadenlose Kälte der moore'schen Story spüren lässt.
Fazit: Ein Meilenstein der Comic-Kunst – cum grano salis! Für jeden Freund bibliophiler Comics ist die CrossCult-Neuauflage ein Muss, auch wenn das langsame Tempo der Geschichte Moores und das eigenwillige Artwork Campbells nicht jedermanns Sache sein dürften.