Die Legende vom Changeling 1
Die Missgeburt
Zeichnungen: Xavier Fourquemin
Szenario: Pierre Dubuis
Kolorierung: Scarlett Smulkowski
Übersetzung: Martin Surmann
Piredda, Hardcover, 56 Seiten, 13,50 EUR, ISBN 978-3-941279-27-8
Von Frank Drehmel
Wir schreiben das späte 19. Jahrhundert. In Dartmoor, einer idyllischen Landschaft in der südenglischen Grafschaft Devon, fristet die vierköpfige Bauernfamilie Jobson ein zwar bescheidenes, aber dennoch erfülltes, naturverbundenes Leben.
Während der Heuernte geschieht das Unglück: die kleine Sheila, die auf Geheiß der Mutter ihren Bruder Peter in seinem Körbchen behüten soll, nimmt den Kleinen mit in den Wald und stellt ihn unter einem Weißdornbusch ab, um anschließend beim selbstvergessenen Spielen ins Grüne zu entschwinden. Als sie zurückkehrt, ist Peter fort.
Voller Trauer und in Furcht davor, dass Feen das Kind geholt haben könnten, führt die Mutter nach erfolgloser Suche einige Nächte später am Ort des Verschwindens ein mystisches Ritual durch, in welchem sie die Wesen aus der Anderswelt um Rückgabe ihres Sohnes bittet. Und tatsächlich: am nächsten Morgen steht das Körbchen vor ihrem Haus, darin ein Kind. Obgleich es nicht ihr Kind ist – wie der Vater einwendet - nimmt die Mutter das kleine Wesen als ihren Sohn Peter an.
Nach einigen Jahren ist Scrubby – so der Spitzname Peters – zu einem frechen Knirps herangewachsen, den eine intensive Naturverbundenheit und ein tiefes Gespür für die Tierwelt mit in die Wiege gelegt worden zu sein scheint.
Während eines Ausflugs mit seiner Schwester Sheila lockt ihn eine Erscheinung in den verwunschenen Feenwald, wo er erstmalig einem alten Mann begegnet, der sich zwar über seine Identität in Schweigen hüllt, der den Jungen in der folgenden Zeit jedoch in die Mysterien der Natur einführt, der Geschichten aus der Frühzeit zum Besten gibt, als Feen und Menschen gemeinsam über die Erde wandelten, und der Scrubby die Augen für die seltsamen Wesen um sie herum öffnet – für die Dryaden, Baumnymphen, Nixen, für Jenny Greenteeth oder Shellycoat, für Knockers, Gwarchelles, Sith und wie sie alle heißen.
Doch irgendwann sind die schönen Tage vorüber. Eine Missernte zwingt die Jobsons – wie viele andere Menschen – dazu, ihre Felder zu verlassen, und ihr Auskommen in London zu suchen. Obgleich die sozialen und hygienischen Zustände in der Großstadt katastrophal sind, findet sich Scrubby schnell in den dreckigen Gassen und zwischen den geduckten Häusern zurecht, begreift die Stadt als einen Dschungel anderer Art, in dem es ebenfalls neue Wunder und Vertrautes zu entdecken gibt. Doch nicht alle Wesen der Stadt sind den Menschen freundlich gesinnt. Ein geheimnisvoller Mann mit rotglühenden Augen kreuzt den Weg des Jungen, ein Mann, der kurz darauf für den Tod des Vaters verantwortlich zeichnen wird.
Die Figur des Changelings, des Wechselbalgs, gehört als mythischer Archetypus nicht nur zum europäischen Sagenkreis, sondern fand in Literatur, Film und Spiel vielfältige Beachtung. Obgleich damit das Grundthema dieses Comic-Albums alles andere als neu ist, gelingt es Dubois, Fourquemin und Smulkowski von der ersten Seite an, eine Geschichte zu entwickeln, in der sich traditionelle Elemente und neuzeitlich distanzierte Interpretation eine zauberhafte und originelle Verbindung eingehen, indem die unterschiedlichen Grundstimmungen immer wieder durch verstörende Elemente durchbrochen werden, die den sozial- und fortschrittskritischen Unterton der Story unterstreichen. So wird die vordergründige Idylle der Natur durch den geradezu gewalttätigen Habitus der Mutter konterkariert, während Andeutungen verborgener Lebendigkeit – die Ratten in der Gosse, die Pflanzen an den Zäunen der Hinterhöfe oder die Parkanlagen - der urbanen Tristesse einen Hauch von Mystik verleihen.
Im Artwork visualisieren Zeichner Fourquemin und Koloristin Smulkowski mit viel Sinn für Atmosphäre die unterschiedlichen Handlungsorte, die weiten, grünen Landschaften, die lebendigen, lichtdurchspielten oder dunklen Wälder, die engen, grauen Gassen der Stadt sowie die in den gelblichen Schein von Gaslichtern getauchten Straßen. Die Figuren selbst weisen markante, lebendige, oftmals knorrige und leicht satirisch überspitzte Physiognomien auf und zeichnen sich insbesondere in ihrer Körpersprache durch eine hinreißende, dynamische Präsenz aus.
Fazit: Eine wunderschön geschriebene und gezeichnete, tiefe Geschichte voller Mystik und Dramatik. Nicht nur Anhängern mythologischer Fantasy ist dieses außergewöhnlich stimmige Comic unbedingt zu empfehlen.