Roger Leloup
Yoko Tsuno Sammelband 2
Von der Erde nach Vinea
(1: Unterirdische Begegnung 3: Die Vulkanschmiede 6: Die dritte Sonne von Vinea)
Yoko Tsuno – De la Terre à Vinea : 1: Le trio de l’etrange (1972) 2: La forge de vulcain (1973) 6: Les 3 soleils de Vinéa (1976), 2006)
Aus dem Französischen von Gisela Prüfer, Marion Hunk, Hartmut Becker und Paul Derouet
Carlsen, 2008, Hardcover mit Lesebändchen, 176 Seiten, 29,90 EUR, ISBN 978-3-551-02177-9
Von Irene Salzmann
Die japanische Comic-Heldin Yoko Tsuno wurde zufällig geboren, denn ursprünglich hatte Roger Leloup diesen Charakter als Nebenfigur für eine andere Serie konzipiert, die dann jedoch verworfen wurde. Auch in ihrer eigenen Serie sollte sie zunächst die Rolle der Heldenbegleiterin innehaben, nachdem sie von den TV-Journalisten Vic und Knut als Assistentin angeheuert worden war. Schon nach wenigen Seiten verselbständigte sie sich und wurde zur dominanten, Titel gebenden Protagonistin.
In der Comic-Welt der 1970er Jahre war das praktisch ein Novum, denn bisher gaben die Männer den Ton an und erlebten spannende Abenteuer, in denen für Frauen kein Platz war bzw. die allenfalls dazu dienten, den Helden zu bewundern und zu schmücken, kreischend in Ohnmacht zu fallen und von ihm gerettet zu werden. Leloup drehte den Spieß nicht absichtlich um, es ergab sich einfach, und ihm und den Lesern gefiel das Resultat.
Fast schon in „James Bond“-Manier geht Yoko Tsuno geheimnisvollen Dingen auf den Grund. Dabei nutzt sie ihre Kenntnisse als Elektronik-Spezialistin und, wenn sie sich verteidigen muss, die asiatische Kampfkunst. Das befähigt sie, es mit Kriminellen, verrückten Wissenschaftlern und sogar Aliens aufzunehmen. Vic, Knut und alle anderen Freunde, die sie im Laufe der Zeit findet, sind Begleiter mit ergänzenden Talenten und zusätzlichem Wissen.
Der zweite Sammelband, „Von der Erde nach Vinea“, präsentiert drei Abenteuer, die sich mit dem Volk der Vineaner befassen, welche seit Jahrtausenden im Innern der Erde leben. Interessant sind die Anmerkungen hierzu, zum Beispiel, dass der Name ein Anagram der Marke „Nivea“ ist und die außerirdische Spezies ihre blaue Haut dem verblassten Werbeschild verdankte. Die in den Geschichten verarbeitenden Ideen, allen voran die Hohlwelt-Theorie, stammten teilweise aus den SF-Romanen, die Roger Leloup als Jugendlicher las, und die wohl auch den meisten Genre-Fans bekannt sind.
1: Unterirdische Begegnung
Vic und Knut werben Yoko Tsuno für einen Dreh in einer Grotte an. Dabei folgen sie dem Verlauf eines unterirdischen Flusses, der durch Farbpulver sichtbar gemacht wurde. Plötzlich jedoch steigt der Wasserspiegel rapide an und reißt die drei mit sich. Die Flutwelle gibt sie erst in einer unterirdischen Anlage frei, in der sie von blauhäutigen Humanoiden festgenommen werden. Eine junge Frau, die sich Khany nennt, überreicht ihnen Diademe, durch die sie miteinander kommunizieren können.
Nun klärt sich schnell auf, dass die Vineaner glaubten, der Farbstoff wäre ein Gift und die drei Besucher kämen als Feinde. Karpan, der Sicherheitschef, will die Fremden dennoch gefangennehmen, aber Khany verhilft ihnen zur Flucht. Dabei finden sie heraus, dass Karpan und alle Vineaner von einem geheimnisvollen Wesen ihrer Emotionen beraubt wurden und mehr oder weniger unter seiner Kontrolle stehen…
3: Die Vulkanschmiede
Bei Ölbohrungen wird ein merkwürdiges Material entdeckt, dessen Beschreibung Yoko Tsuno an die mysteriöse Kugel erinnert, die sie von Khany zum Abschied bekam. Zusammen mit Knut und Vic fliegt sie zur Ölinsel, der eine Katastrophe droht, denn unter ihr hat sich eine Blase aus Gas gebildet, das droht, durch das Magma entzündet zu werden. Wenn dies geschieht, fliegt nicht nur die Ölinsel in die Luft, auch Martinique ist in Gefahr.
Als Yoko unter der Plattform ein Fluggefährt der Vineaner entdeckt und den verletzten Mann bergen kann, dauert es nicht lange, bis Khany erscheint. Es stellt sich heraus, dass bei den Bohrungen die unterirdische Anlage beschädigt wurde und nicht mehr viel Zeit bleibt, um das Unheil aufzuhalten. Yoko und ihre Freunde erklären sich sogleich bereit, bei dem gefährlichen Unternehmen mitzuwirken und stoßen prompt auf einen alten Feind…
6: Die dritte Sonne von Vinea
Einst verließen die Vineaner ihre dem Untergang geweihte Welt und fanden im Innern der Erde eine neue Heimat, wo sie Jahrtausende unentdeckt lebten. Nun wollen sie diese wieder verlassen und stellen fest, dass Vinea noch existiert! Allerdings hat sich vieles verändert: Der Planet hat eine eiskalte, von den Sonnen abgewandte und eine heiße, den Sonnen zugewandte Seite. In der Zone dazwischen gibt es Industrieanlagen, die die unterirdischen Städte mit Energie versorgen.
Yoko und Khany erfahren von den Arbeitern, dass der so genannte Oberste Führer über die Bevölkerung herrscht und jeder ihn fürchtet. Sogleich begeben sich die beiden jungen Frauen und ihre Freunde auf die Suche nach dem Despoten und erleben eine Überraschung…
Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen, doch durchzieht ein vager roter Faden die Handlung. Man erfährt immer mehr und Neues über die Vineaner - und vielleicht tauchen sie auch in späteren Bänden noch einmal auf. Die Geschehnisse sind geprägt von den charakteristischen Erwartungen, die man in den 1970er Jahre an die SF stellte: Der Glaube an UFOs und Besucher aus dem Weltall, die Existenz geheimnisvoller Völker im Innern der Erde, die über eine überlegene Technologie verfügen, aber auch die Angst vor einer fortschreitenden Technifizierung, die die Menschen zu Sklaven ihrer Geschöpfe, den Robotern, macht, während ihnen zunehmend die Gefühle abhanden geraten. Letzteres ist sogar gleich zweimal Thema in den Erzählungen.
Der Leser wird in eine Handlung hinein gezogen, die einen Mix aus SF und Action bietet. Für Romanzen ist kein Platz vorgesehen – Yokos Beziehungen sind rein kameradschaftlicher Natur, und auch die Flirtversuche ihre Begleiter bleiben fruchtlos -, und auch der Humor, der vor allem von Knut transportiert wird, lockert nur stellenweise auf. Obwohl auf Spannung gesetzt wird, bemüht sich Roger Leloup auch um plausible Erklärungen für die technischen und naturwissenschaftlichen Phänomene.
Die Figuren, die mit leichtem Strich gezeichnet sind, agieren vor realistischen, aufwändig gestalteten Kulissen, die sich an tatsächlichen Vorbildern orientieren, für die viel Recherchearbeit geleistet wurde.
Abgerundet wird das HC-Album durch reichliche Hintergrundinformationen über den Künstler, seinen Werdegang und die Entstehungsgeschichte der Vinea-Abenteuer.
Alles in allem ist der zweite „Yoko Tsuno“-Sammelband genauso interessant und spannend wie der erste und ein Schmuckstück im Regal jedes Sammlers. Obwohl die Abenteuer futuristisch sind, erlebt man einen Ausflug in die 1970er Jahre, und auch wenn so manches etwas antiquiert anmutet (die Mode, die Denkweise…), so machen die Comics trotzdem viel Spaß und unterhalten Jung und Alt bestens mit sympathischen Helden und nachvollziehbaren Geschichten.