Wolfgang Jeschke
Das Cusanus Spiel
Titelbild: FinePic
Droemer Knaur, 2005, Hardcover, 701 Seiten, 24,00 EUR, ISBN: 978-3-426-19700-4
Von Gunther Barnewald
„Das Cusanus-Spiel“ ist jener von Fans sehnsüchtig erwartete Roman, der schon als kleiner Ausschnitt in Form einer Kurzgeschichte in der von Erik Simon herausgegebenen Anthologie „Alexanders langes Leben und Stalins früher Tod „den Kurd-Laßwitz-Preis für das Jahr 1999 erhalten hatte.
Wolfgang Jeschke, prominenter Ex-Herausgeber der Heyne SF-Reihe und nicht minder geachteter und geschätzter Autor genialer Romane und Kurzgeschichten, beschert uns mit dem voluminösen Werk „Das Cusanus-Spiel“ ein rätselhaftes Stück Literatur, welches sich nicht so einfach einordnen lässt.
“Was will uns der Autor damit sagen?”, so fragen Deutschlehrer oft ihre Schüler. Eine gute Frage bezüglich des vorliegenden Werks!
Zunächst fällt die Geschichte mit 700 Seiten arg lang aus. Großes Plus Jeschkes ist definitiv sein brillanter Stil, der den Leser auch in dieser Länge zu fesseln vermag. Eindringlich und frappierend sind die Bilder, die der Autor vor den Augen des Lesers heraufbeschwört. Doch hier beginnt schon eines der großen Probleme von „Das Cusanus-Spiel“, denn außer einer längeren Sequenz, die in einem zukünftigen Venedig des Jahres 2052 spielt, sind alle Szenarien dermaßen düster, dystopisch und solchermaßen morbide, dass der Leser eine schwere depressive Störung riskiert, wenn er sich auf sie einlässt.
Egal ob das von Attentätern, faschistoiden Rotten und sonstigen Kriminellen erfüllte Rom des Jahres 2052, wo die Geschichte zu Beginn spielt, oder das von der Protagonistin dann doch irgendwann einmal bereiste Köln des 15. Jahrhunderts, das von schwersten Attentate erschütterte Europa des Jahres 2039 oder gar, zweifellos heftigstes Szenario, der von radioaktivem Staub im Jahr 2028 völlig zerstörte Mittlere Teil Deutschlands, alles Orte, die den Eindruck erwecken, man sollte sich den Aufenthalt lieber sparen.
Schon am Anfang des Romans findet sich der Leser in einem Rom wieder, in dem die Ordnungskräfte fast völlig die Macht verloren haben. Zwischen Plündererbanden und rechtsradikalen nächtlichen “Säuberungsmaßnahmen" lebt hier die junge Botanikstudentin Domenica Ligrina. Diese wird von einem mysteriösen Wissenschaftlichen Institut angeworben, welches in der Lage ist, Zeitreisen durchzuführen. Größte Enttäuschung für den Leser dürfte es dann sein, dass er bis Sage und Schreibe Seite 555 warten muss, bis die gelehrte Dame dann endlich ihren ersten, und natürlich viel zu kurzen, Zeiteinsatz hat.
Selbstverständlich ist auch das 15. Jahrhundert Horror pur, was aber zumindest recht glaubhaft ist. Leider sind auch alle anderen von Jeschke beschriebenen (zukünftigen) Jahre hier in Europa die reinste Hölle.
Am heftigsten werden den deutschen Leser wohl jene Kapitel treffen, in denen die Protagonistin durch Süddeutschland reist, vorbei an einer Zerstörungslinie, welche die Pfalz, Hessen und sogar Thüringen und Sachsen zur Todeszone degradiert. Ein Unfall im französischen Cattenom hat am 28. Juli 2028 radioaktiven Staub in großer Menge austreten lassen, welcher, nach Osten ziehen, seine Ausläufer bis Polen und Tschechien schickte. Das Rhein-Main-Gebiet ist quasi eine einzige Leichenzone, auch Jahrzehnte später dermaßen verseucht, dass niemand hinein kann. Die Deutschen sind zu Flüchtlingen in Europa geworden, zu Parias, die kein Land aufnehmen will. Und während Österreich aus der EU austritt und die alte Doppelmonarchie mit seinen ehemaligen Verbündeten wieder aufleben lässt, siecht die einstige Wirtschaftsnation Deutschland elend dahin.
Inmitten all dieser desolaten Zustände experimentiert man mit Zeitreisen, nur um festzustellen, dass es viele Realitäten gibt, und man wichtige historische Ereignisse, wie etwa den Unfall in Cattenom, nicht zeitlich erreichen kann, da eine Art Zeitfeld um wichtige Knotenpunkte der Geschichte liegen.
Genau so chaotisch und anarchisch wie die von Jeschke beschriebene Zukunft, ist leider der Aufbau seines Romans. Das Buch wimmelt von Kapiteln, die mit der eigentlichen Handlung gar nichts oder extrem wenig zu tun haben, ja manchmal den Eindruck erwecken, der Autor habe mit aller Macht alles “verwursten” wollen, was er noch in der Schublade hatte.
Völlig unmotiviert springt die Handlung auf einen Planeten fern in der Galaxis in unbestimmter Zeit, wo seltsame Experimente stattfinden, die wiederum ... die Geschehnisse auf der Erde beeinflussen sollen? Oder was sonst?
Dann wiederum eröffnet der Autor Nebenschauplätze, die zwar manchmal ganz nett zu lesen sind, jedoch die schneckenhafte Handlung noch weiter verzögern.
Am Ende der Erzählung sind wohl weder Autor noch Leser wirklich schlauer.
Zurück bleibt der Eindruck eines nahezu völlig verkorksten Werks, welches durch Stil des Autors und die entworfenen Bilder zwar besticht, jedoch inhaltlich und vor allem als SF-Roman völlig unzulänglich ist.
Schade, denn von Wolfgang Jeschke ist der Leser bisher literarisch sehr verwöhnt worden, Bücher wie „Der Zeiter“, „Der letzte Tag der Schöpfung“, „Meamones Auge“ oder „Midas oder die Auferstehung des Fleisches“ waren Meisterwerke des Genres.
„Das Cusanus-Spiel“ ist dies definitiv nicht, dazu ist die Geschichte zu zerfahren, die bei Jeschke ohnehin nie überragend gestalteten Protagonisten noch schwächer als üblich, die stilistisch tadellose Ausarbeitung mit den erschreckenden Szenarien zwar bewunderungswürdig, die fehlende Spannung und die verschleppte Handlung ruinieren die vorliegend Story jedoch ziemlich.
Schade, denn gerade von Jeschkes Alterswerk, der bedingt durch seinen Ruhestand als Herausgeber von jenen Aufgaben entbunden sich nun ganz dem Schreiben widmen konnte, hätte man mehr erwartet.
Zu befürchten ist, dass das vorliegende krude Werk trotzdem einige SF-Preise einheimsen wird, denn allein der Name des Autors wird die Preisverleiher zittern lassen, und viele werden, ohne das Buch gelesen zu haben, einfach für Wolfgang Jeschke stimmen, eingedenk seiner unbestreitbaren Verdienste um die SF in Deutschland.
Deshalb ist es wirklich traurig, dass „Das Cusanus-Spiel“ kein dem großen SF-Autor Wolfgang Jeschke würdigeres Werk geworden ist!