Mary Gentle
1610: Der letzte Alchimist
(1610 A Sundial in a Grave Part 1 & 2)
Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schumacher
Titelillustration Les Edwards
Bastei-Lübbe, 2006, Taschenbuch, 428 Seiten, 7,95 EUR, ISBN 3-404-20529-4
Von Carsten Kuhr
Mögen Sie Alexandre Dumas' »Die drei Musketiere«? Dann werden Sie Mary Gentles letzten Geniestreich lieben. Niemand anderesm als der aus den Musketieren bekannte Rochefort spielt die Hauptrolle in dem abwechslungsreichen Mantel- und Degenroman.
Rochefort verdient sich seinen Lebensunterhalt als Spion des französischen Finanzministers. Doch gleich zu Beginn sitzt er tief in der Patsche. Die Königin, eine Medici, heuert ihn an, ihren Gemahl zu ermorden. Sein Plan, den Anschlag möglichst dilettantisch ausführen zu lassen, um das Verbrechen so zu verhindern misslingt, der König stirbt, und Rochefort muss, verfolgt von den Häschern der Königin, fliehen. Doch damit beginnen seine Probleme erst. Ein junger Duellant stellt ihm nach und lässt sich nicht abschütteln. Schlimmer, Rochefort, eigentlich ein Mann der Frauen fühlt sich offenbar sexuell zu dem kaum der Kindheit entwachsenen hingezogen und entdeckt seine masochistische Ader. Auf der Flucht stoßen sie an der Bretagnischen Küste auf einen japanischen Samurai. Zusammen gelingt ihnen die Überquerung des Kanals; doch in London erwarten sie schon neue Verschwörer. Ein Prophet sucht sich die Dienste des Königsmörders Rochefort zu sichern. Diesmal soll der englische König getötet werden, andernfalls sehen die Berechnungen des Zukunftsdeuters finstere Zeitalter auf die Menschen zukommen.
Es kann nicht schlimmer kommen denken Sie? Falsch, denn die Zukunftsdeutung Robert Fludds scheint wirklich zu funktionieren, und dann taucht auch noch eine italienische Hexe auf, die sich auch auf die Deutung der nächsten Jahrzehnte versteht...
Mary Gentle hat mit ihrem ebenfalls bei Bastei-Lübbe erschienenen in vier Bücher aufgeteilten Mammutroman um »Die Legende von Ash« auf sich Aufmerksam gemacht. Diesmal verlegt die Geschichtswissenschaftlerin ihre Handlung nicht ins Mittelalter, sondern ins Jahr 1610. Fundiert berichtet sie uns von den Zuständen in Paris und London. Quasi versteckt zwischen den Zeilen ihrer faszinierenden Handlung erfährt der Leser viel Wissenswertes über das Leben Anfang des 17. Jahrhunderts.
Und wie wir das von Gentle gewohnt sind, geht es heftig und deftig zur Sache. Ganz wie es damals eben war fließen die menschlichen Ausscheidungen in den Straßen, wird gefickt und gevöllert, betrogen und gesoffen, gekämpft und gemordet. Die Handlung atmet förmlich Authentizität. Man meint, selbst dem Gestank und Schmutz, dem ungezügelten Sittenverfall ausgesetzt zu sein.
In dieses große Sittengemälde hat sie ihre markten Personen eingebettet. Neben dem loyalen Spion - eigentlich ein Widerspruch in sich selbst - nutzt sie einen traditionsbewussten Samurai und eine verkleidete Duellantin um ihren Plot voranzutreiben. Geschickt vermischt sie hierbei Elemente des Mantel- und Degenromans mit Versatzstücken aus Thriller- und Spionbüchern. Das Endergebnis erweist sich einmal mehr als Pageturner par Excellenze. Ungeduldig kann der Leser nur darauf warten, dass der für die Übersetzung in zwei Teile aufgesplittete Roman im Juni 2006 fortgesetzt wird.