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Schreiner, Andreas: Am Abgrund der Zeit (Buch)

Andreas Schreiner
Am Abgrund der Zeit
Arena Verlag; 211 Seiten, 9,95 EUR,. ISBN 3-401-05553-4

Von Gunther Barnewald

Bereits 1901 beschrieb Herbert George Wells in seiner Kurzgeschichte “The new accelerator” (dt. als “Der neue Akzelerator” oder auch als “Der neue Beschleuniger”, u. a. in Wells Kurzgeschichtensammlung „Das Kristall-Ei“ erschienen) einen Wissenschaftler, der eine Arznei erfindet, mit der er den Zeitstrom stoppen kann und sich selbst innerhalb dieser wie eingefroren wirkenden Welt bewegen kann. Dies ist mit viel Aufwand verbunden, denn die Luft ist zäh wie Wasser und bei zu schneller Bewegung entsteht eine enorme Reibungshitze, welche den Experimentator gefährdet.
Diese Idee wurde seitdem immer wieder von Sciencefiction-Autoren aufgegriffen.
So verhilft z. B. eine ominöse Uhr dem Protagonisten von John D. MacDonalds 1962 erschienenem Roman The girl, the gold watch and everything (dt. gekürzt 1970 als Terra Taschenbuch 179 unter dem Titel „Flucht in die rote Welt“ und ungekürzt 1993 als Heyne Taschenbuch 06/5023 unter dem Titel „Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest“ erschienen) zu allerlei (allerdings nur für den Leser) vergnüglichen Abenteuern.
In Günter Teskes Story “Der tausendste Versuch” (in „Die verschwundene Mumie“, Kompaß Taschenbuch 245) wird ein Handballtorwart durch Strahlung in die Lage versetzt, die Welt um sich zu verlangsamen, worauf er jeden Wurfversuch des Gegners als heranschwebenden Ball sieht, diesen mühelos pariert, somit das Tor förmlich “zunagelt” und damit die gegnerische Mannschaft fast in den Wahnsinn treibt.
Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass die von Wells entwickelte Idee bei den ihm nachfolgenden Schriftstellergenerationen auf fruchtbaren Boden gefallen ist.
Wer jedoch dachte, dieses Thema sei ausführlich strapaziert und nahezu “ausgelutscht”, der sollte sich Andreas Schreiners famoses Buch „Am Abgrund der Zeit“ besorgen, welches die oben beschriebene Idee mit den alltäglichen Problemen des 13jährigen Schülers Florian aufs Vergnüglichste verbindet.

Florian ist einer jener “Minderleister”, die in der Schule vor Faulheit nur so stinken. Florian ist dicklich, träge und hat absolut keinen Bock auf Schule und Lernen. Statt dessen haben ihm seine Mitschüler den Spitznamen Copy-King gegeben, da er Hausaufgaben immer kurz vor Unterrichtsbeginn bei anderen abzuschreiben pflegt.
Der Junge dreht inzwischen die erste “Ehrenrunde”, ist er doch letztes Jahr nicht versetzt worden. Nun ruht er sich noch mehr auf seinen “Lorbeeren” aus, denn schließlich glaubt er den Stoff des Schuljahres ja schon zu kennen. Doch weit gefehlt. Schon bald ist die Versetzung des jungen Mannes erneut gefährdet und nur durch die Mithilfe der neuen und sehr netten Klassenkameraden gelingt es Florian überhaupt, den Anforderungen einigermaßen, wenn auch nicht wirklich befriedigend, nachzukommen.
Florians Mutter, eine Ärztin, ist verzweifelt, während ihr Sohn seinen alltäglichen Kampf mit seiner Faul- und Trägheit zu verlieren scheint.
Doch dann entdeckt Florian zufällig die Fähigkeit an sich, den Fluss der Zeit zu verlangsamen oder gar fast gänzlich anzuhalten. Urplötzlich findet er sich in einer durch Lichtverschiebung bedingt rot gefärbten Welt, in der alle Bewegungen eingefroren zu sein scheinen. Und während der Junge den von ihm als Nullwelt bezeichneten Zustand näher erkundet, geht ihm auf, wie nützlich dies alles beim Abschreiben von Klassenarbeiten, dem Kopieren von Hausaufgaben und auch im Schulsport ist, wo er seine neuen Fähigkeiten weitgehend ungehindert ausnutzen kann.
Plötzlich scheinen sich ungeahnte Möglichkeiten zu ergeben für Florian. Fast zu spät merkt er, dass er über sein Ziel hinaus schießt. Erst seine Freundschaft mit der etwa gleichaltrigen Laura, der er das Leben retten kann, bringt ihn wieder etwas zur Vernunft.
Jedoch ist seine Versetzung in der Schule erneut gefährdet und zu Hause liegt Florian deshalb im Clinch mit seinen Eltern.
Florian hat die Schnauze voll, beschließt die Zeit anzuhalten und sich Ferien zu gönnen. Erst auf seiner abenteuerlichen Reise weg von zu Hause entdeckt der Junge, dass er nicht allein ist in seiner Welt und welche Gefahr seine Macht für sich und andere wirklich mit sich bringt....

Besondere Stärke des vorliegenden Buches sind zweifellos die überaus lebendigen und sympathischen Protagonisten. Vor allem den faulen Florian muss man einfach mögen.
Die moralischen Implikationen, die sich aus Florians neuer Fähigkeit ergeben, werden dem Jungen aber erst bewusst, nachdem es fast zu spät ist. Hierin erweist sich der Protagonist als ehrlicher und glaubhafter Pubertierender, der in einer kruden Mischung aus Idealismus und Egoismus versucht, das beste für sich aber auch für alle sozial Benachteiligten herauszuholen.
So denkt er sich nichts dabei, als er dem alten Stadtstreicher, den er schon ewig kennt und gerne mag, zwei Flaschen geklauten Schnaps zusteckt (denn schließlich kann sich Florian in jedem Supermarkt frei bedienen). Er meint es nur gut, ohne zu ahnen, dass dieser sich damit zu Tode saufen wird.
Der Junge geht anfangs dermaßen unreflektiert mit seiner neuen Fähigkeit um, dass sogar die deutlich reifere Laura ihr Unverständnis ihm gegenüber ausdrückt.
Schließlich muss sich Florian entscheiden zwischen der hedonistischen Eigenbrödlerwelt der Nullzeit und der sozialen Gemeinschaft der Menschen, in der er nicht ohne Grenzen schmarotzen darf und in der es neben Rechten auch Pflichten gibt und in der seine Faulheit von ihm selbst überwunden werden muss.
Dies alles wird vom Autor jedoch auf lockere und leichte Art und Weise serviert, extrem unterhaltsam und völlig ohne erhobenen Zeigefinger.
Florian trifft viele Entscheidungen in seinem Leben aus dem Bauch heraus, ist einerseits egozentrisch, andererseits aber auch voll jugendlichem Idealismus. Er ist dabei aber nicht nur für junge Leser eine ideale Identifikationsfigur. Statt dessen fühlt man sich auch als älterer Leser mit Florian verbunden, verzeiht ihm seinen Egoismus und seine Fehler, weil man weiß, dass man selbst einmal jung gewesen ist und auch das eigene Weltbild in der Pubertät eingeschränkt und einfach strukturiert war.
Zudem ist das vorliegende Buch spannend, anschaulich geschrieben und vergnüglich.
Die abenteuerliche Odyssee Florians, als er von zu Hause wegläuft und seine Entdeckungen und Erlebnisse während der Reise, machen das vorliegende Buch zu einem packenden Schmöker.

Lobend erwähnen muss man auch die netten Zeichnungen von Elisabeth Holzhausen, die den positiven Eindruck dieser Publikation abrunden.
Zwar bleiben nach beendeter Lektüre einige Fragen offen (Wieso kann der Junge in seiner Zeitblase unbegrenzt atmen/Woher kommt der Sauerstoff? Was sind jene gespenstischen Lebewesen, die in der Nullwelt zu leben scheinen und woher kommen deren merkwürdige Radiosendungen?), doch stört dies nicht weiter den Lesegenus. Ganz im Gegenteil geben die merkwürdigen Geister dem Buch noch eine zusätzliche exotische Würze.
„Am Abgrund der Zeit“ ist ideale Lektüre für Jung und Alt, hält perfekt die Balance zwischen Unterhaltung und Spannung einerseits und Nachdenklichkeit und intellektueller Anregung andererseits.

hinzugefügt: July 17th 2004
Tester: Guido Latz
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